Niemand soll verloren gehen. Der jesuanische Auftrag

Regionalbischof Christian Kopp
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Christinnen und Christen geben niemanden verloren. Von dieser Grundhaltung nach dem Vorbild von Jesus sprach Regionalbischof Christian Kopp in seinem Vortrag beim Neujahrsempfang der Bonhoeffer-Gemeinde am 19. Januar 2022 in München-Germering. Kirche sei dann Kirche, wenn sie für andere da sei, für Menschen, denen in der "bleiernen Zeit" von Pandemie und Krieg die Kraft ausgehe, für Jugendliche, als helfendes und dienendes Vorbild im menschlichen Gemeinschaftsleben. Dazu brauche die Kirche in Zukunft viel Seelsorge und Zuhören, Diakonie und Hilfe in Not, Spiritualität und sinnliche Gottesdienste, Persönlichkeit und Authentizität, Freiwilligen-Engagement und: Humor.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bedanke mich sehr herzlich für die Ehre, heute Abend bei Ihrem Jahresempfang hier in Germering den Neujahrsvortrag halten zu dürfen. Als mich Pfarrer Dr. Lorenz vor Monaten fragte, worüber ich sprechen möchte – ich sei da recht frei – da fiel mir für die Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde dieses Wort meiner alten Freundin Elisabeth ein. Sie sprach gerne vom Auftrag Jesu, vom jesuanischen Auftrag. Elisabeth war eine wunderbare Frau, Tochter einer Bankiersfamilie aus Kempten, musisch unglaublich begabt, eine großartige Sängerin von Bach, Mozart, Schubert und vielem Anderen, die dann einen attraktiven jungen Mann aus Ostpreußen heiratete, der später als Pfarrer unserer Landeskirche tolle Arbeit machte. Der jesuanische Auftrag also in Memoria Elisabeth heute Abend in Germering. Niemand soll verloren gehen.

Ich gliedere meinen Vortrag in vier Kapitel:
1.    Ein kleiner Blick in die Gegenwart zum Thema Verlieren
2.    Die Botschaft Jesu vom Verlieren und Finden
3.    Der jesuanische Auftrag einer Bonhoeffergemeinde
4.    Was kommt und was es braucht

1. Blick in die Gegenwart

Ich lese gerne Zeitung. Ich finde Journalist*innen oft klug. In der ZEIT hat mich vor ca. drei Wochen eine kurze Nachricht einer 16-jährigen aufgeschreckt, die über ihre Corona-Lockdown-Erfahrungen geschrieben hat. Sie war in dieser Zeit im Kopf wie tot. Im Kopf wie tot. 

Wir befinden uns in einer der schwierigsten Zeit, auf die ich in meinem Leben zurückschauen kann. Eine bleierne Zeit könnte man das gut mit Margaretha von Trotta nennen. Vielleicht können Sie es ein bisschen nachvollziehen – ich finde im Moment so eine gedrückte Freude in allen Vollzügen. Ich esse zum Beispiel für mein Leben gern. Es schmeckte mir aber schon besser. Ich hatte schon glücklichere Zeiten und da war das Essen nicht besser. Es liegt so ein Schleier über dieser Zeit seit Anfang 2020. Nach Corona kam Putin. Und all die Klimafragen. Diese Zeit ist enorm anstrengend für alle Menschen. Ganz besonders belastend ist diese Zeit aber für alle sensiblen Personen. Ich muss an den Rücktritt der neuseeländischen Premierministerin Jacinda Ardern denken und ihre Begründung: Nicht mehr genug Kraft. Nicht mehr genug im Tank.

Die sensiblen, die vulnerablen Gruppen haben wir das in der Coronazeit genannt. In ganz besonderer Weise gilt das für die Menschen, die den größten Teil ihrer Lebensspanne schon hinter sich haben. Und für die, die bisher erst sehr wenige Jahre gelebt haben. Viele Menschen haben in diesen Jahren viel verloren. Manche haben Menschen verloren, die gestorben sind. Nicht wenige haben gesundheitliche Einschränkungen. Andere haben Lebenschancen verloren. Und Lebensmut dazu.
Das ist eine enorme Herausforderung für uns als Menschen, die von der Gegenwart und Nähe Gottes in jedem Leben überzeugt sind. Wie können wir diese stärkende, nährende, tröstende Seite unserer Überzeugung anderen nahebringen. Ich glaube, dass wir da in der Wirkung noch Gestaltungschancen haben, die noch ungenutzt sind. Das mag in Germering anders sein. Aber die stärkende, helfende, unterstützende Seite von Kirche kommt mir oft zu kurz. Wissen wir in den Städten und Quartieren, wer alles hier im Namen Gottes unterwegs ist? Kennen wir unsere Verbündeten? Machen wir auch öffentlich klar genug, wofür eine Gemeinde wie die Bonhoeffergemeinde auszeichnet? Hier in Germering wird niemals nicht jemand verloren gegeben. So sind Christinnen und Christen. 

Mir liegen im Moment die jungen Menschen sehr am Herzen. Die liegen mir immer am Herzen. Aber im Moment mache ich mir da große Sorgen. Machen wir alle als Gesellschaft und als Hilfsorganisationen genug, die im Leben zu halten und gut zu begleiten? Es gibt da viele gute Ideen – Kontakt Kontakt Kontakt ist wichtig. Da sind wir als Gemeinden so stark. Bitte tut alles, um die Menschen hier bei uns im Kontakt zu halten. Niemand soll verloren gehen.

2. Die Botschaft Jesu vom Verlieren und Finden

Über die Wirksamkeit der historischen Person Jesus aus Nazareth sind unzählige Werke erschienen. Namhafte Professorinnen und Professoren haben sich da die Finger wund geschrieben. Ich bin da sehr vorsichtig mit der Koppschen Auslegung der Botschaft dieses besonderen Menschen Jesus aus Nazareth. Eigentlich gibt jeder und jede, die sich dem Christlichen nahefühlt, mit ihrem und seinem je eigenen Leben die eigene Auslegung.

Für mich gehört die grundlegende Einsicht vom Niemanden verloren geben zu den zentralen Einsichten des christlichen Glaubens. Christinnen und Christen geben niemanden verloren. Ich liebe die Gleichnisse vom verlorenen Schaf, vom verlorenen Groschen oder vom sogenannten verlorenen Sohn. Niemals aufgeben steht da mit Großbuchstaben darüber. Ganz fett. Niemals geben wir Menschen auf. Wie auch immer und wo auch immer sie sich verloren haben. Ich gehe auf Demonstrationen gegen Parteien und Gruppierungen, die unsere Verfassung verändern wollen. Also nicht auf parlamentarischen Weg, sondern anders. Dagegen stehe ich auf. Ich würde aber niemals sagen, ich demonstriere gegen diese Menschen als Personen. Ich demonstriere gegen ihre Haltungen. Ich bin auch der Meinung, dass wir Christinnen und Christen uns positionieren müssen in diesen Diskussionen um den Wert von Menschen, die ich regelmäßig in meiner Verwandtschaft austragen muss. Das alles hier ist uns anvertraut – lasst uns sorgsame Verwalter und Verwalterinnen sein. Aber das gehört uns nicht. Es ist uns anvertraut – auf Zeit.

Neben diesen Gleichnissen der Barmherzigkeit liebe ich die Jesuserzählung, bei der Jesus quasi vom Ende aller Enden, vom Reich der Himmel her in die Zukunft schaut. Und er erzählt in dieser starken Rede über das, was eigentlich Menschen hätten tun sollen mit ihrem Erdenleben. Er spricht so ganz in echt also gar nicht über die Zukunft. Er spricht über heute. Was Christinnen und Christen zu tun haben. In der Bibelwissenschaft nennen wir diesen Abschnitt Die Werke der Barmherzigkeit. Mir läuft es manchmal da richtig kalt den Buckel runter, wenn ich mal wieder an so einem Tag voller Besprechungen und Mediationen war und dann das höre. Wie Jesus sagt, was der König erwartet: Hungernde speisen, Dürstenden zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Kranke besuchen, Gefangene besuchen, Tote begraben. Eigentlich ziemlich einfach, das gehört zu unseren christlichen Grundaufgaben. Wo das getan wird, wächst der Friede zwischen uns. Zusammengefasst: Wo niemanden verloren geht.

3. Die jesuanische Aufgabe einer Bonhoeffergemeinde

Ihre Kirchengemeinde trägt einen stolzen Namen. Wenn der Dietrich Bonhoeffer, den die Nazis am 9. April 1945 vier Wochen vor der Kapitulation der Wehrmacht ermordet haben, das wüsste, dass Ihr hier Bonhoeffer heißt, wahrscheinlich würde er sich wundern. Das Leben von Dietrich Bonhoeffer gewann eine Ausstrahlung, die weit über alles hinausgeht, was er selber in seinem Leben an Anerkennung und Achtung erfahren hat. Im Rückblick ist Dietrich Bonhoeffers Wirkungsgeschichte eben so viel größer als die Stellung, die er in seiner Lebenszeit gewinnen konnte. Die Glaubensüberzeugung und die Gewissenspflicht, die er im Widerstand gegen die Nazi-Diktatur zeigte, hat ihn zu einem echten evangelischen Heiligen gemacht. Er wird unvergessen bleiben. Und er ist einer, der den Verlorenen und dem Verlorenen nachging. 

Für Bonhoeffer war klar, dass die Kirche in der Diktatur Aufgaben hat. Ich diskutiere regelmäßig, ob sich die Kirche politisch äußern darf. Auf der Bestattung meiner Schwester schreit mich mein tolle Cousin Karl-Georg, bodenständiger fränkischer Unternehmer, durch den ganzen Saal an: Du, wenn Dein Bischof noch a Schiff kauft, tret ich aus. Was Bonhoeffer Karl-Georg wohl gesagt hätte? Bohoeffer schreibt einmal: Die Kirche ist den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet, auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zugehören … 3. Wenn die Kirche den Staat ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht ausüben sieht, kommt sie in die Lage, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.“ In Widerstand und Ergebung geht er dann ganz weit. Bonhoeffer schreibt: Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Um einen Anfang zu machen, muss sie alles Eigentum den Notleidenden schenken. Die Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinden leben, evtl. einen weltlichen Beruf ausüben. Sie muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend. Sie muss den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heißt, „für andere dazu sein“. Speziell wird unsere Kirche den Lastern der Hybris, der Anbetung der Kraft und des Neides und des Illusionismus als den Wurzeln allen Übels entgegentreten müssen. Sie wird von Maß, Echtheit, Vertrauen, Treue, Stetigkeit, Geduld, Zucht, Demut, Genügsamkeit, Bescheidenheit sprechen müssen. Sie wird die Bedeutung des menschlichen „Vorbildes (das in der Menschheit Jesu seinen Ursprung hat und bei Paulus so wichtig ist!) nicht unterschätzen dürfen; nicht durch Begriffe, sondern durch „Vorbild“ bekommt ihr Wort Nachdruck und Kraft.

Vorbilder also. Wie tritt die Kirche auf? Viele Menschen beschäftigt im Moment stark die Frage, wer Bayerns next Bishop wird und auf unseren charismatischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm folgt. Von dem soll ich übrigens herzlich grüßen, er wäre gerne gekommen, ist aber in diesen Tagen im Ökumenischen Rat in Genf unabkömmlich. In den Nachrichten des Arbeitskreises Bekennender Christen hat Dr. Günter Beckstein einen Wunsch formuliert an Bayerns next bishop, den er sich von Bonhoeffer entlehnt hat. Beckstein schreibt: „Bescheidenheit wäre gut.“ 
Eine Bonhoeffer Gemeinde ist dann eine Bonhoeffer Gemeinde, wenn sie bescheiden aber dennoch bestimmt auftritt und arbeitet. Und dabei immer radikal an die Seite derer tritt, die verloren sind oder dabei sind sich zu verlieren. 

4. Was kommt und was es braucht

Ich bin mit vielen der Überzeugung, dass wir alle miteinander gerade eine besondere Zeit erleben. Schlaue Chronistinnen oder Chronisten werden mit etwas Abstand Werke über diese Zeit schreiben. Da wird dann von Achsenzeit oder Zeitenwende, von Kipppunkten oder grundlegenden Transformationen die Rede sein. 
Diese Zeit verändert gerade die Grundannahmen auf denen unsere Religionsgemeinschaft in den letzten 100 Jahren gegründet war. Da dreht sich etwas. Es ist noch nicht ganz genau abzusehen, in welche Richtung es geht. Aber sicher ist: Wir werden als Christinnen und Christen weniger. Wir werden weniger finanzielle Ressourcen haben. Wir werden uns weniger schlecht genutzte Immobilien leisten können. Vielleicht müssen wir auch bei den Gehältern zurückfahren – Bonhoeffer gab da schon Hinweise. Aber sicher ist doch auf jeden Fall: Unser Beitrag ist so wichtig. Ein Landesminister hat mir kürzlich gesagt: Ihr seid das Gewebe, der Glibber rund um die Knochen unseres Staates. Ihr haltet das Ganze zusammen. Wir brauchen Euch, überall. 

Nicht selten frage ich mich in all den Austrittsdiskussionen, ob uns in der Evangelischen Kirche eigentlich klar ist, wie sehr diese Welt unseren Beitrag braucht und schätzt. Nicht alle, aber viele.

Ich komme zum Ende. Und ich möchte Ihnen einige Hinweise geben zu den Punkten, an denen für mich die Musik spielt für eine evangelische Kirche, die niemanden wirklich niemanden verloren gibt. Das sind alles Punkte, die einer Dietrich Bonhoeffer Gemeinde gut zu Gesicht stehen.

Seelsorge und Zuhören

Mich hat in der Pandemie oft gewurmt, wie sehr wir als Kirche in der öffentlichen Wahrnehmung in die Defensive geraten sind. Als hätten wir in Kristen nichts anzubieten. Ein Freund von mir, der ein psychiatrische Klinik leitet und sehr evangelisch ist, sagt immer: Warum steht bei Euch an Euren Gemeindehäusern eigentlich nicht dran: Hier wird zugehört. Wir können zuhören. Wir haben es gelernt. 
Wir leben in einer unglaublich auf sich konzentrierten Welt. Ich lebe in einem Mehrfamilienhaus. Da können Sie das an der Papiertonne nach Weihnachten live erleben. Wir Christinnen und Christen sind Menschen, die nicht alleine leben wollen. Die wissen, es geht nur gemeinsam. Dafür braucht es Zuhören. Dafür braucht es Sorge für die Seele.

Diakonie und Hilfe in Not

Das ist mein zweiter Punkt und er erklärt sich von selbst. Ohne tätige Nächstenliebe gibt es keine Kirche, keinen Glauben, kein Christsein. Und das betrifft alle Bereiche. Manchmal bin ich schon sehr dankbar, wenn Kirchenvorsteherinnen und Kirchenvorsteher überhaupt wissen, welche diakonischen Einrichtungen im eigenen Gemeindegebiet sind geschweige denn ob es da intensive Kontakte gibt. Das ist in Germering anders. Aber diese tätige Seite hat immer Konjunktur. 

Spiritualität und sinnliche Gottesdienste

Ich möchte ohne Gott nicht leben. Ich bin davon zutiefst überzeugt, dass Menschen mit dieser unsichtbaren Seite des Lebens glücklich leben können. Mich tröstet das. Ich muss das hier nicht alleine wuppen. Ich bin auch nicht für alles verantwortlich. Ich verdanke mich nicht mir selber. Mein Beitrag ist wichtig, aber er ist beileibe nicht alles. Ich muss auch nicht alles verstehen. Deshalb wünsche ich mir so, dass wir diese spirituelle Seite immer intensiv leben und erlebbar machen. Ich wünsche mir berührende, sinnliche Gottesdienste, in denen eine Sprache und Ordnung verwendet wird, die andere verstehen können. Auf der Höhe der Zeit. 

Persönlichkeit und Authentizität

Ich muss in meiner jetzigen Aufgabe immer Studienreisen organisieren. Ich bin in verschiedenen Gremien drin und regelmäßig bin ich für das Programm zuständig. Früher habe ich die thematisch organisiert. Heute mache ich es konsequent mit der Suche nach interessanten Personen, die uns weiterhelfen. Menschen brauchen Gegenüber, Reibung. Wir lernen von anderen. Eine Gemeinde ist ein Ort, wo Du interessante Personen treffen kannst. Gegenüber. Menschen, die andern standhalten und echte Spiegel sein können. 

Freiwilligenengagement konsequent im Mittelpunkt

Mein vorletzter Punkt: Das ganze Unternehmen hier hat ehrenamtlich begonnen, wird im Wesentlichen von Ehrenamtlichen betrieben und wird irgendwann – sollte es enden – auch ehrenamtlich zuende gehen. Deshalb investieren wir soviel Energie wie möglich in das konsequente Freiwilligenengagement. Kirchengemeinden wünsche ich mir als Freiwilligenagenturen vor Ort. Dort kann ich mit meinen Fähigkeiten und Interessen einbringen für andere und für das Wohl der Gemeinschaft vor Ort. Und wenn Kirchengemeinden das noch nicht so richtig sind, dann – lasst es uns werden.

Humor

Zu guter Letzt. Es gibt so unendlich viele Gründe, als Christinnen und Christen heiter durchs Leben zu gehen. Herzhaft zu lachen, am lautesten über mich selbst und meine Marotten und Unzulänglichkeiten. Lasst uns mit allem von mir aus sparsam und haushälterisch umsichtig umgehen – aber niemals mit dem Humor und mit dem Lachen. Das brauchen wir, das braucht die Welt.

Ich danke Ihnen. Alles Gute und Gottes Segen für Ihr Jahr 2023.